Eltern-Kind-Entfremdung - Loslassen… “Wann sollte ich mein Kind aufgeben?”

Sehr viele Eltern, die durch die sprichwörtliche Hölle der Eltern-Kind-Entfremdung gehen, sehen sich leider nach oft langem und emotional extrem belastendem und schmerzvollem Prozess an dem Punkt, dann dem sie sich die Frage stellen, ob es nicht besser wäre – auch für die Kinder – wenn sie aufgeben und loslassen.

Carolyn Steen - Psychologische Lebensberatung, Coaching, Krisenintervention

… den Kampf beenden, los-lassen oder auch den Weg zum Frieden und zur Wiedervereinigung zumindest mit sich selber suchen… das scheint nach einem langen und oft brutal geführten Kampf, der körperlich, seelisch und finanziell erschöpft hat, so verlockend…

Und doch bleibt immer die Frage: “Und dann?”

Es ist keine einfache Frage und auf schwierige Fragen gibt es keine einfachen Antworten und erst Recht keine Standardantworten.

“Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; unglücklich ist jede Familie auf ihre eigene Art.”
– Tolstoi: Anna Karenina

In der Regel empfehle ich Eltern nicht “aufzugeben”, sondern den von mir gezeichneten Weg über die Selbstreflexion, die Kooperation, des Wachstums und Lernens und des guten Willens zu versuchen.

Dennoch… manche Eltern kommen einfach an den Punkt, an dem sie sich verausgabt und ausgezehrt fühlen und “nicht mehr können”. Dann kommt oft die Frage auf: “Ist es das wert? Sollte ich nicht einfach aufgeben? Loslassen? Auch für mein Kind?”

Ja. Manchmal – wenn man sehr geklärt ist, kann das der beste Weg sein, den du ganz persönlich für dich gehen kannst.

Dennoch….

Es bestehen meiner Meinung nach verschiedene Risiken, die du bei der Entscheidung berücksichtigen solltest. Nicht zuletzt das Risiko, dass du dein Kind nicht mehr wiedersehen wirst. Es gibt keine Garantie dafür, dass dein Kind als Erwachsener ein Einsehen haben wird und erkennt.

Ich verstehe sehr gut, dass ab einem gewissen Punkt der Rat, den du vielleicht von Helfern, Freunden oder auch deiner Familie und deinen Liebsten bekommst, du solltest loslassen, erst einmal fast erleichternd klingt. Die Anspannung darf für einen kurzen Moment abfallen. Vor allem, wenn dann auch noch versprochen wird, dies würde sicher auch “energetisch” dazu beitragen, dass das Kind sich besinnen würde, kann das sehr verlockend klingen.

Es gibt allerdings meines Wissens nach keine Untersuchung, die diese These unterstützen würde. Im Gegenteil geht Amy Baker in ihrem ersten Standardwerk davon aus, dass es zwar erwachsene entfremdete Kinder gibt, die einen guten Kontakt zu dem entfremdeten Elternteil im Erwachsenenalter wieder herstellen können, dies aber nicht die Regel, sondern eher eine Ausnahme ist.

Ich werde zunehmend oft von erwachsenen entfremdeten Kindern kontaktiert, die erkennen, dass ihre Lebensgeschichte – genauso wie meine – durch die Entfremdung von einem Elternteil extrem negativ geprägt wurde, die dennoch keinen Kontakt zu dem entfremdeten Elternteil suchen oder aufnehmen möchten. Und ich verstehe auch deren Gründe, insbesondere, wenn dieser Elternteil sich gewalttätig, abwertend, verletzt gezeigt und sich zurück gezogen hat, Wunden entstanden und Vertrauen gebrochen wurde.

Als Kind, genauso wie als Elternteil, diesen Verlust zu heilen ist nicht einfach und wird nie einfach sein. Ich höre sowohl bei dem entfremdeten Kind, als auch bei dem entfremdeten Elternteil so viel Schmerz, Wut, teilweise Rache und gleichzeitig oft auch die romantisch in die Zukunft projizierte Hoffnung, dass sich ab einem nicht definierten magischen Zeitpunkt in der Ferne, einem Ereignis, dass vielleicht kommen könnte, der andere doch noch ändert und besinnt. Nur JETZT geht es halt noch nicht.

Die aller meisten Menschen möchten “jetzt” einfach Frieden. Loslassen. Entspannung. Einfach nur mal wieder glücklich und zufrieden sein, mit dem Leben, das man hat. Das verstehe ich sehr, sehr gut.

Wenn du an diesem Punkt angekommen bist und dich fragst, ob du nicht besser loslassen solltest, dann möchte ich dich dennoch darum bitten die folgenden Punkte gut zu bedenken und in Betracht zu ziehen, die auch D. Darnall in seinem Buch “beyond divorce casualties – reunifying the alienated family” nennt:

• Empfindest du noch Rache oder Hass, Verzweiflung oder Wut ist es unwahrscheinlich, dass du tatsächlich loslassen kannst. Die Entscheidung, ob du dein Kind loslassen solltest, triffst du besser aus einer geklärten Emotionalität heraus. Ich empfehle dir sehr gute professionelle Begleitung zu suchen, die mit dir erarbeitet, was für dich wirklich am besten ist.

• Solltest du dich dafür entscheiden, tatsächlich “los zu lassen” ist es ratsam, wenn du dies deinem Kind und auch dem anderen Elternteil persönlich mitteilst.

• Die Mitteilung könnte auch als Video-Botschaft erfolgen. Es wäre allerdings sehr gut, wenn sie deinem Kind und auch dem anderen Elternteil in Gegenwart eines Anwalts oder eines Therapeuten vorgespielt wird, damit das Kind und auch der andere Elternteil die Möglichkeit bekommen, anschließend darüber zu sprechen.

• Deine Botschaft sollte respektvoll, friedlich und liebevoll sein. (Sprich in und von Liebe zu deinem Kind, nicht in und von Wut, Schmerz, Enttäuschung und Rache.)

• Erkläre deinem Kind, dass du nicht “böse” mit ihm bist und immer für dein Kind zur Verfügung stehen wirst.

• Wichtig ist, dass du eine konkrete Möglichkeit der Kontaktaufnahme nennst, die du IMMER aufrecht erhalten wirst (ein öffentlicher Facebook oder Instagram Account etc. auf dem du immer wieder Bilder von dir selber und deinem derzeitigen Leben einstellst, so dass dein Kind mit dir in Kontakt bleiben kann, ohne Kontakt suchen zu müssen und über den es dich auch erreichen kann).

• Erkläre deinem Kind, dass du dich sehr über jede Form der Kontaktaufnahme freuen würdest.

• Und versichere deinem Kind, dass du auch in Zukunft an wichtigen Ereignissen (Geburtstag, Weihnachten) eine Karte mit einem Gruß schicken wirst, weil dir dein Kind wichtig ist und du möchtest, dass es auch in Zukunft nie daran zweifeln muss.

Bitte bedenke, dass deine Entscheidung, auf deine Rechte in Zukunft zu verzichten nicht bedeutet, dass du damit deine Verpflichtungen ablegen kannst. Und nicht zuletzt möchte ich dich bitten, zu bedenken, dass “loslassen” einfach klingt, aber alles andere als einfach ist.

Gerade in den vergangenen Jahren wurde immer wieder von Therapeuten, Coaches, spirituellen Lehrern und Beratern propagiert, man solle “loslassen”. Ich gestehe, dass ich selber auch früher oft so vorgegangen bin. Es gibt unzählige Meditationen, Energie-Heilungs-Methoden, “Kristalle”, Retreats, die sich mit dem Thema beschäftigen. Allerdings kenne ich sehr wenige Menschen, die wissen, was “Loslassen” eigentlich wirklich bedeutet und wie das überhaupt gehen sollte und vor allem kenne ich noch viel weniger Menschen, denen es wirklich gelungen ist.

Manchmal scheint es, als würde behauptet, man müsse nur die Absicht fassen und dann sei alle Sehnsucht, alles Verlangen, alle Trauer einfach weg. Leider funktioniert das meiner Erfahrung nach in der Regel nur für eine kurze Zeit und dann findet man sich am “Punkt Null” wieder, nur dass man unter Umständen in der Zwischenzeit wichtige Handlungen, Chancen oder Ereignisse verpasst hat.

“Loslassen” wird von vielen sogar inzwischen körperlich geübt. Man schreibt das Ereignis, die Person, das Problem auf einen Zettel, nimmt ihn in die geballt Faust, spannt den ganzen Körper an konzentriert sich auf die Anspannung, nimmt einen tiefen Atemzug, hält die Luft kurz an und läßt dann mit der Ausatmung alles “los” auch den Zettel; komplette Entspannung im ganzen Köper. Das fühlt sich erst total erleichternd an und oft kann es sogar für Tage so sein, als hätte man wirklich “losgelassen”.

Leider – wie gesagt – ist meine Erfahrung bisher in der Regel so gewesen, dass die allermeisten Menschen den Zettel dann doch irgendwann “wieder aufgehoben” haben. Loslassen ist meiner Erfahrung nach ein tiefer und sehr intensiver Prozess der Vergebung, der am besten sehr gut professionell begleitet werden sollte.

“Alienation is all about what we have forgotten, reverence is all about remembering. We re-member (remember) – you do not disconnect from your emotions but reconnect and get out off alienation.” (Richard Rudd)

Bitte sprich mich an, wenn ich dich auf deinem ganz persönlichen Weg tiefer unterstützen soll, ich bin mir sehr bewusst, was für ein unglaublicher Schmerz und welche Belastung die Entfremdung von deinem Kind bedeutet. Es ist kein leichter Weg und du solltest ihn nicht alleine gehen.

Carolyn Steen – Psychologische Lebensberatung, Coaching, Krisenintervention, Trennungs- und Scheidungsberatung – Im Mittelpunkt des Lebens