Der “erzwungene” Umgang mit dem abgelehnten Elternteil bei Eltern-Kind- Entfremdung / PAS

Ich bekomme oft die Frage gestellt, ob der Kindes-Wille bei Fragen des Umgangs mit dem getrennt lebenden Elternteil nicht als oberstes Entscheidungsgebot dienen sollte. Meine Antwort hierauf ist in den aller meisten Fällen ein klares Nein.

Carolyn Steen - Psychologische Lebensberatung, Coaching, Krisenintervention

Warum sollte man meiner Meinung nach diese Entscheidung nicht dem Kind überlassen? Immerhin hat die Resilienz-Forschung der vergangenen Jahrzehnte klar erwiesen, dass den Kindeswillen in Entscheidungen einzubeziehen das Kind stärkt und fördert und die emotionale, soziale und sogar auch kognitiv gesunde Entwicklung erheblich fördert. Darum sollte doch der Wille des Kindes immer maßgeblich Beachtung finden?

Leider wird dieses Argument oft falsch interpretiert und gerade in der Umsetzung während gerichtlicher Sorgerecht-Streitigkeiten zum Nachteil aller Beteiligter angewandt.

Dies ist insofern verständlich, da die Angst, dass man dem Kind schadet, wenn man es gegen den vermeintlichen Willen zwingt den anderen Elternteil zu sehen, bei nicht geschulten Prozessbegleitern oft dazu führt, den “angeblichen” Kindeswillen als oberstes Entscheidungsgebot zumindest stark zu berücksichtigen.

Der positive und sich freie Umgang mit BEIDEN Elternteilen ist für die gesunde Entwicklung wesentlich.

 

s.h. auch Hetherington & Kelly, 2003; Amato & Sobolewski, 2001

Was spricht allerdings gegen ein derartiges Vorgehen? In zahlreichen entwicklungs- psychologischen Studien konnte nachgewiesen werden, dass die gesunde kindliche Entwicklung ausschließt, dass das Kind überhaupt in der Lage ist, Entscheidungen mit vollem Kontext-bezogenen erwachsenen Verständnis zu treffen. Dies nachzuvollziehen ist vor allem bei Kleinkindern und auch sehr jungen Kindern einfach, die eindeutig weder in der Lage sind, zu verstehen und erst recht nicht zu kommunizieren, was der Umgang oder die Aussetzung des Umgangs mit einem getrennt-lebenden Elternteil für Folgen nach sich zieht.

Darüber hinaus sind die Gründe für die Umgangsverweigerung eines Kindes oder Jugendlichen oft so Komplex, dass eine gutbegründete Entscheidung die Wiederaufnahme des Umgangs betreffend eine derart fortgeschrittene kognitive Entwicklung und sozio- emotionale Reife des Kindes erfordern würden, die selbst vielen Erwachsenen nicht zur Verfügung steht. Und obwohl es inzwischen umfangreiche Studien und Fachliteratur bezüglich der Vorteile des Umgangs und der Beziehungspflege mit beiden Elternteilen gibt, sind Kinder und Jugendliche nicht diejenigen, die diese Literatur lesen und können sich schon aus diesem Grund keine wohlinformierte Meinung bilden.

Kindern und Jugendlichen fehlt darüber hinaus die Lebenserfahrung um eine solche Entscheidung treffen zu können und oft tendieren Kinder und Jugendliche auf Grund ihrer normalen Entwicklung zu “egozentrischem” Verhalten und wählen oft den “einfachen und schnellen Weg”, der maximalen Erfolg und Wohlbefinden bei minimalem Einsatz bietet. Erst später, wenn der Präfrontale Cortex vollständig ausgebildet ist, sind viele Menschen in der Lage die Vorteile einer gewissen Frustrationstoleranz voll schätzen zu können.

Alles in allem sind Kinder und Jugendliche also entwicklungspsychologisch ungeeignet, weitreichende Entscheidungen über den Umgang mit dem entfremdeten Elternteil zu treffen.

Dennoch hat es sich meiner Erfahrung nach als sehr negativ gezeigt, wenn der Kindeswille nicht Gehör und Berücksichtigung gefunden hat.

Um dieses Dilemma aufzulösen ist es gut, wenn man sich mit der klassischen “Schul-“ oder auch “Zahnarzt-Besuch-“ Frage auseinander setzt. Fragt man Eltern oder auch Prozesshelfer, ob man einem Kind oder Jugendlichen die Entscheidung überlassen solle, ob es weiterhin zur Schule gehen möchte, oder bei Karies einen Zahnarzt aufsuchen will, kommt eine sehr klare Antwort, dass dies zum Wohle des Kindes auf keinen Fall der Entscheidungsgewalt des Kindes unterliegen darf – über das Kind, den Jugendlichen wird “verfügt” ohne dessen Einwilligung oder Zustimmung. Die Frage des “Kindeswillen” und der Förderung der Resilienz und der Selbstwirksamkeit ist nicht mehr interessant.

Möchte ich aber beides für das Kind ermöglichen ist es notwendig, das Kind auch in die Entscheidung bezüglich des Umgangs einzubeziehen. Die Frage ist dann allerdings nicht mehr, ob der Umgang stattfindet oder in welchem Umfang er stattfinden wird, sondern es sind Fragen bezüglich der Gestaltung bei der das Kind oder der Jugendliche sich alters- und entwicklungsabhängig voll einbringen darf und auch sollte. Das fängt mit einfachen Entscheidungsfragen an wie beispielsweise, ob und welche Spielzeuge mitgenommen werden.

Durch die einfache Möglichkeit dem Kind ein oder zwei Alternativen zur Entscheidung anzubieten erzeugt man das Gefühl der Selbstwirksamkeit, ohne das Kind in eine Entscheidungskompetenz zu zwingen, der es schlicht noch nicht gewachsen ist.

Fazit: dies bedeutet für alle Eltern, die sich fragen, ob sie ihre Kinder “zwingen” sollten, die geplanten Umgangswochenenden mit dem getrennt lebenden Elternteil wahrzunehmen, obwohl sie sich vielleicht sträuben, dass es zum Wohle aller Beteiligten nicht in der Entscheidungskompetenz der Kinder liegen sollte, ob ein Umgang stattfindet, und dass das längerfristige und entwicklungspsychologisch wichtigere Kriterium – die Bindung an beide Elternteile – durch den kontinuierlichen, nicht diskutierten Umgang sichergestellt werden sollte. Mitspracherecht über Themen wie Kleidung, Übergabeort, Gestaltung der gemeinsamen Zeit etc. sollte hingegen in altersgerechtem Umfang auf jeden Fall stattfinden.

Nachwort: Ich möchte betonen, dass ich hier um die Umgangsverweigerung in Fällen von Eltern-Kind-Entfremdung spreche, in denen kein nachgewiesener Missbrauch oder Vernachlässigung stattgefunden hat. In den meisten derartigen Fällen wertet man es in der Tat als durchschlagenden Therapie-Erfolg, wenn Kinder und Jugendliche nach Jahren der therapeutischen Begleitung den Umgang mit dem Täter verweigern. Eine nicht nachvollziehbare Umgangsverweigerung seitens eines Kindes oder Jugendlichen während oder nach der Trennung oder Scheidung der Eltern geht in den aller meisten Fällen auf die Dynamik der Eltern-Kind-Entfremdung zurück.

Schreib mir doch in die Kommentare, was deine größte Herausforderung mit deinem Teenager oder Kind war oder ist.

Carolyn Steen – Psychologische Lebensberatung, Coaching, Krisenintervention, Trennungs- und Scheidungsberatung – Im Mittelpunkt des Lebens